Gluck: Die Opernreform

Gluck: Die Opernreform
Gluck: Die Opernreform
 
Glucks Wiener Opernreform ist in ihrer geschichtlichen Bedeutung vielfach gewürdigt, in ihrer Originalität zuweilen überschätzt, aber auch unterbewertet worden. Überschätzt, insofern sie von einer Woge von Neuerungsansätzen vorbereitet und begleitet wurde, die personell wie ideell auf unmittelbar vorangegangene Reformbestrebungen innerhalb der italienischen Opera seria in Parma zurückzuführen sind, unterbewertet, weil dabei nicht alleine der Kontext zur metastasianischen Opera seria gesehen werden darf, sondern zugleich auch Glucks Verwurzelung in der »italianisierten« Tragédie lyrique und der französichen Opéra -comique, einschließlich der Neuerungen im Ballett.
 
Als ein Mittler zwischen den Opernzentren Parma und Wien einerseits, Paris und Wien andererseits, ist der Genueser Diplomat Graf Giacomo Durazzo anzusehen, der seit 1752 Assistent, von 1754 bis 1764 Generalspektakeldirektor am Wiener Kaiserhof war. Mit dem Pariser Kulturleben stand Durazzo in denkbar enger Verbindung, auf Reisen wie über Berichte und umfangreiche Literatur. Seine für Gluck überaus bedeutende »erste« Reform des Wiener Theaterlebens bestand 1755 in der Etablierung der Opéra-comique, und zwar nach dem direkten Vorbild des französischen Dramatikers Charles Simon Favart. Um diese Zeit begann auch die enge Zusammenarbeit zwischen Durazzo und Gluck selbst, die in einer Serie von Bearbeitungen französischer Opéra-comiques durch Gluck für das Hoftheater mündeten. Geht man das Problem chronologisch an, so steht am Anfang von Glucks Opernreform die Erfahrung mit der Opéra-comique, die sich in Glucks und Ranieri de' Calzabigis erster Reformoper »Orfeo ed Euridice« (Oktober 1762) niederschlug, neben der Übernahme von Arientypen sowie des Vaudeville-Finales ersichtlich vor allem an der kompositorisch ingeniös realisierten Ästhetik des »Einfachen«.
 
Analoges gilt für Durazzos »zweite« Reform: die des Balletts. Wie man heute weiß, wirkte er direkt auf die Künstler am Wiener Hof ein, so auch auf den Choreographen Antoine Pitrot, den er zu dem Ballet »di Furie, e loro seguaci« für die Azione teatrale »Armida« (Januar 1761) anregte, welche - eindreiviertel Jahr vor Glucks »Orfeo« uraufgeführt - als die erste Wiener Reformoper gilt (»nuova specie di spettacolo«). Ihr Hauptverantwortlicher soll, wie es im Vorwort des Librettos heißt, niemand anderes als Durazzo gewesen sein. Gluck komponierte ein Furienballett erstmals für das von Gasparo Angiolini choreographierte Ballett »Don Juan ou Le festin de pierre« (Oktober 1761), und zwar nach dessen neuen Ideen, die sich in diesem Jahr »geklärt haben sollen«, wie Angiolini in seinen berühmten Briefen an den Choreographen Jean-Georges Noverre (1773) schreibt: in Form einer Pantomime als »Kunst, die Sitten, die Leidenschaften, die Taten der Götter, Helden, Menschen nachzuahmen durch Bewegungen und Körperhaltungen, durch rhythmische Gebärden und Zeichen, die fähig sind zum Ausdruck dessen, was man dargestellt wissen möchte«.
 
Im Schnittpunkt einerseits dieser beiden Reformen Durazzos sowie andererseits der Gattung der am Wiener Kaiserhof seit dem 17. Jahrhundert etablierten »Azione teatrale«, für die ebenfalls Durazzo und Gluck gemeinsam 1759 »L'innocenza giustificata« beigesteuert hatten, ist mithin Glucks erstes Reformwerk, die Azione teatrale »Orfeo ed Euridice«, angesiedelt. Was »Orfeo ed Euridice« auszeichnet, ist die Verschmelzung der Azione teatrale mit einer Ästhetik der Einfachheit und Natürlichkeit.
 
Calzabigis Reformgedanken über die Oper als Gattung: die Erneuerung der Opera seria in Richtung Tragédie lyrique, die Absage an die Intrigenhandlung zugunsten einer einfachen Handlung und zugunsten einer Musik, die nicht der Gesangsakrobatik, sondern der Poesie diene, schließlich sein Plädoyer für Einheit von Gesang, Tanz, Aktion und Bühnenbild, realisierte Gluck weitaus konsequenter in »Alceste« (1767) und »Paride ed Elena« (1770). Beide Opern basieren auf je einem einzigen Aktionsstrang, in beiden Opern auch bilden Chor und Ballet, Arie und Rezitativ in der Tat eine musikdramatisches »Ganzes«.
 
Zum rechten Zeitpunkt, als die Reform der italienischen Oper unter Orientierung an der Tragédie lyrique abzuebben begann, hatte Gluck Gelegenheit, sich als Künstler in Paris, an der Académie Royale de Musique, zu verwirklichen. Der Gedanke an eine Reform belastete ihn hier ebenso wenig wie die Frage der Gattungen: Er bewegte sich bereits mit »Iphigénie en Aulide« (1774) im Gerüst der Tragédie lyrique, als kompositorisches Ideal schwebte ihm nun eine Musik vor, die »allen Nationen eigen sei«. So verfeinerte er seinen musikalischen Satz im Dienste dramatischer Ausdrucksvielfalt. Seine Werke zeichneten sich nun durch einen Nuancenreichtum aus, der sich aus dem Zusammenspiel von gestischen Instrumentalfloskeln, deklamatorischem Melos und ganz auf die Aktion abgestellten Ballett- und Chorszenen ergab.
 
Prof. Dr. Sabine Henze-Döhring
 
 
Die Musik des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Carl Dahlhaus. Sonderausgabe Laaber 1996.
 Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. Eine andere Operngeschichte. Taschenbuchausgabe München u. a. 1995.
 Schreiber, Ulrich: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. 2 Bände. Lizenzausgabe Kassel u. a. 1988—91.

Universal-Lexikon. 2012.

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